Russlanddeutsche Kulturgeschichte

 

Auf der Bühne des russischen Theaters
über die Tragödie der Russlanddeutschen

75 Jahre lang, seit dem berüchtigten Erlass des Obersten Sowjets vom 28. August 1941, wäre ein solches Kulturereignis kaum vorstellbar gewesen. Während der Zeit der Sowjetunion wurde es streng verboten, über die Repressalien, Deportation, Ungerechtigkeit und sogar über die Geschichte der Russlanddeutschen - vor der Oktoberrevolution bzw. vor dem 2. Weltkrieg – zu schreiben.

Und bis dato ist es, gelinde gesagt, etwa unwillkommen über das tragische Schicksal und das Leben der Russlanddeutschen, das nicht selten arm an Freuden gewesen ist, zu berichten. Eine solche Haltung ist gang und gäbe, obwohl im fernen 1964 alle Anschuldigungen gegen die Russlanddeutschen als haltlos eingestanden wurden und 1991 verabschiedete man das Gesetz ‚Über die Rehabilitierung der repressierten Völker‘. Dem entsprechend musste auch die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen wiederhergestellt werden. Mehr als 25 Jahre tagt routinemäßig die deutsch-russische Regierungskommission über „die Zusammenarbeit zur Wiederherstellung der Staatlichkeit der Russlanddeutschen“. Sowohl in Deutschland als auch in Russland wird der „Paradigma Wechsel“ von den Russlanddeutschen gefordert und gefördert. Und jetzt... Etwas gänzlich Unerwartetes ist passiert!

Am 30. September, im fernen Sibirien, im Theater der Kleinstadt Tara des Omsk-Gebiets fand eine Erstaufführung statt. Es wurde das Schauspiel ‚Vaters Fußtapfen‘ («Папин след» auf Russisch) nach der bekannten Novelle des Klassikers der russlanddeutschen Literatur Hugo Wormsbecher ‚Unser Hof‘ gezeigt. Vielen ist bewusst, dass dieses ergreifende Meisterwerk, das vor fast 50 Jahren geschrieben ist und über die Tragödie der Russlanddeutschen erzählt, keinen leichten Weg zu Lesern hinter sich gehabt hat. Und es wurde lange Zeit von der sowjetischen Zensur verboten, diese Novelle drucken lassen, fast bis zum Zerfall der Sowjetunion.

Den bei mir eingegangenen Berichten zufolge, hat die Premiere das Publikum zutiefst mitgerissen. Und nicht nur die Russlanddeutschen, weil das Los unseres Volkes schon mehreren Generationen der Bürger Deutschlands und Russlands wenig bekannt ist. Und viele wissen überhaupt nichts davon. Ich habe gehört, dass auch einige Vertreter der Deutschen national-kulturellen Autonomie des Gebiets Omsk und sogar eine Gruppe von Jugendlichen aus Deutschland speziell nach Tara kamen, um der Aufführung beizuwohnen.

Es ist so zusammengefallen, dass nach zwei Monaten genau in Tara sich das Allrussische Theaterfestival, das dem 90. Jubiläum des russischen Schauspielers Michail Uljanow (das Theater trägt seinen Namen) gewidmet ist, zugetragen hat. Im Rahmen dieses Festivals wurde auch das Theaterstück ‚Vaters Fußtapfen‘ (unter der Regie von Konstantin Rechtin) außerplanmäßig aufgeführt und gewann den Publikumspreis. Zudem ist es mit dem speziellen Jurypreis „Für hervorragendes Kunstwerk und Eintreten für allgemeingültige menschliche Werte“ ausgezeichnet worden.

Und noch ein für die Öffentlichkeit wichtiges Kulturgeschehen bei diesem Anlass: am 25. November wurde das ‚Vaters Fußtapfen‘ in Omsk aufgeführt, wo zu diesem Zeitpunkt die Konferenz der Deutschen National-kulturellen Autonomie des Gebiets Omsk stattfand. Und selbst der Autor der Novelle ‚Unser Hof‘ Hugo Wormsbecher, der zurzeit in Moskau wohnt, wurde zur diesen Aufführung eingeladen. Nach dem unaufhörlichen Schlussapplaus, mit dem die Zuschauer dem Regisseur und den Schauspielern dankten, wurde auch der Autor auf die Bühne eingeladen. Er sagte:

„Heute ist ein sehr ungewöhnlicher Tag für uns alle. 76 Jahre zurück, gerieten wir uns in eine ähnliche Winterzeit des unüberschaubaren Sibiriens hinein. Wir – die aus den Heimatsorten Hinausgejagten und Bezichtigten von unserem Staat des Verrats, den wir nicht begangen hatten. Bald danach – und auch im Winter – wurden unsere Väter, wie Kriminelle, im Konvoi fortgeschleppt und hinter dem Stacheldraht eingekerkert. Und dann waren die Mütter an der Reihe – weggetrieben zu Holzschlägen in Taiga, zu Baustellen im Ural, zu Kohl- und Erzgruben. Infolgedessen sind die Kinder für mehrere Jahre sich selbst überlassen worden: unter Fremden, ohne eigenen Dach über dem Kopf, ohne Russischkenntnisse und Existenzgrundlage.

Auf das ganze Volk, dessen Vorfahren einst von Russland eingeladen worden waren, das einen enormen Beitrag zum Aufbau der Russischen Staatlichkeit geleistet hatte (nur das russische Volk selbst hat ohne Zweifel mehr getan), wurden die brutalsten Repressalien angewandt. Ihm wurden Missetaten, die es nicht begangen hatte, angelastet. Es war „sicherheitshalber“ bestraft worden. Und wieder, wie im Ersten Weltkrieg, wurden die Deutschen in Russland beschuldigt, weil sie der gleichen Nationalität wie der Gegner gehörten.

Nur nach dem Krieg konnten die Eltern, diejenigen, die überlebten, zu ihren Kindern zurückzukehren, zu denjenigen, die überlebten. Aber die Repressalien hörten auch nach dem Kriegsende nicht auf. Noch 10 Jahre waren wir von den Sonderkommandanturen überwacht und unsere Bürgerrechte eingeschränkt gewesen, sogar das Recht auf Bildung. Als den anderen repressierten Völkern erlaubte man, in Heimatsorte zurückzukehren und ihre Republiken wiederherzustellen, ist den Deutschen dieses Menschenrecht auf die Heimat bis heute verweigert geblieben.

Nur 1964 wurden wir von Anschuldigungen entlastet, aber die Strafe ist geblieben. 1965 wagten sich zwei Delegationen der Russlanddeutschen zur Reise nach Moskau, um die Rehabilitierung zu erringen; jedoch, nachdem bloß verschärfte sich die Lage. Sogar in der Zentralzeitung für die Russlanddeutschen, die man damals in Russland herausgab, wurde es verboten, über die Geschichte und Probleme unseres Volkes zu schreiben. Gleichmäßig wurde es verboten, selbst das Wort ‚Wolga‘ zu gebrauchen, so dass die „unnötigen Gedanken“ keineswegs zum Vorschein gebracht werden könnten. Nach dem Anlauf der Delegationen wurde die damals bei uns florierende Laienkunst dichtgemacht, um die Gesinnungen über die Wiederherstellung des nationalen Hauses der Russlanddeutschen im Keim zu ersticken. Uns wurde angeboten, im „zusammengewürfelten Chor“ mit anderen zu singen.

Die Novelle ‚Unser Hof‘ wurde lange vor der Perestroika verfasst. Von der sowjetischen Zensur wurde ihre Veröffentlichung untersagt. Und auch nach der Publikation stand sie unter Überwachung. Das Deutsche Schauspielhaus in Kasachstan wollte sie zu veranstalten – „hat‘s nicht geklappt“. Die Filmgesellschaft ‚Mosfilm‘ in Moskau zusammen mit einem westdeutschen Filmstudio hatte vor, sie zu verfilmen - „hat‘s nicht geklappt“. Vor 15 Jahren beabsichtigte das Moskauer Taganka-Theater sie zu inszenieren - und „hat‘s auch nicht geklappt“.

Und heute, 76 Jahre nach unserer Tragödie, ist es zu guter Letzt gelungen, die Novelle in Szene zu setzen. Ich bin zutiefst dankbar dem Gebiet Omsk, dass es geschafft hat, dieses Schauspiel auf dem sibirischen Boden aufzuführen. Ich bin auch zutiefst dankbar der Deutschen national-kulturellen Autonomie, dass sie zum Erfolg dieses Vorhabens sehr aktiv beigetragen hat. Mein größter Dank allerdings gebührt dem Schauspielhaus der Stadt Tara, seinem Intendant und seiner Truppe für den Mut diese Novelle zu inszenieren, für ihre inhaltliche Einfühlung und innige Mitleidenschaft mit dem tragischen Los unseres Volkes.

Ich glaube, dass diesem Kulturschaffen des Theaters ist die Bedeutung, die zweifellos die Grenzen dieser Region überschreiten wird, im Voraus bestimmt. Weil mit diesem Schauspiel das Theater den Grundstein für die Annährung unserer Völker gelegt hat – durch die Veranschaulichung ihrer Geschichte und Probleme, Beseitigung der Unkenntnis und Vorurteile. Und das ist sehr wichtig für die nationale Politik Russlands, das ein Vielvölkerstaat ist. Weil es zur Völkerverständigung beiträgt, ihre Annährung fördert und die Zusammengehörigkeit stärkt.

Wir nehmen schon die neuen Zeiten, die greifbar sind, wahr. Es ist noch in unserem Kollektivgedächtnis eingeprägt worden, was wir und das ganze Land durchgehen mussten. Wir erinnern uns noch sehr gut daran, welches Erbe unser Präsident bekommen hatte – nach einigen Jahren der Willkürherrschaft des Kommandos des ersten Präsidenten. Wir entsinnen uns des Schadens, den diese Willkürherrschaft unserm Land angerichtet hatte. Und die Verluste sind zweieinhalb höher gewesen als die wirtschaftliche Einbuße, verursacht durch den Großen Vaterländischen Krieg. Und wir begreifen, dass es damals beschäftigte man sich nicht mit einzelnen Problemen, auch nicht – mit unserem, der Russlanddeutschen. Damals mussten wir alle zunächst unser gemeinsames Haus – unser Land – retten.

Heute sehen wir, dass unser Land wieder große Probleme aus vielen Bereichen zu lösen, fähig ist. Wir sehen, dass unser Land ganz anders aussieht, im Vergleich zu dem, was es 15 Jahre zuvor war. Wir sehen, dass auch auf der internationalen Ebene seine Handlungsspielraum, Ansehen und Rolle unermesslich zugenommen haben. Ich glaube, dass wir hoffen wagen können, dass heutzutage unser Land der Lösung des einstigen Problems - Wiederherstellung der Gerechtigkeit den Russlanddeutschen gegenüber, dem einzigen unter seinen Völker, das bis heute nicht rehabilitiert ist – gewachsen sein kann.“

Vielleicht, viele von uns, trotz dem Schmerzen vom zähflüssigen Eintreffen der Gerechtigkeit unserem Volk gegenüber, können mit dem, was der Autor der Novelle ‚Unser Hof‘ den Zuschauern gesagt hat, einverstanden sein. Die Nachrichten über das neue Theaterkunstwerk lassen sich flugs aus: es genügt, im Google «Папин след» einzugeben. Wir bekommen auch die Information über die Theaterpläne, es bekommt Angebote das Theaterstück in anderen Regionen Sibiriens, in Moskau, Kasachstan und Deutschland zu zeigen.

Ich bin der Meinung, dass nicht nur die Russlanddeutschen, die das Schauspiel unmittelbar sehen konnten, sind dem Nördlichen Schauspielhaus in Tara dankbar für seine Zuwendung zum Schicksal unseres Volkes, für die Völkerverständigung im Sinne der besten Traditionen des russischen Vielvölkerstaates, für die hervorragende Kunstleistung. Ich glaube, dass auch andere Russlanddeutsche die Möglichkeit haben müssen, einen Einblick in dieses Theaterstück zu gewinnen. Ich hoffe, dass die russlanddeutschen NGOs, die sowohl in den postsowjetischen Staaten als auch in Deutschland aktiv sind, alle, die bei ihnen vorhandenen Leistungsfähigkeiten einsetzen werden, so dass mehrere Tausende von Russlanddeutschen und Menschen anderer Nationalitäten dem Schauspiel ‚Vaters Fußtapfen‘ beiwohnen könnten und die Möglichkeit hätten, ihren persönlichen großen Dank dem Kollektiv des Theaters auszusprechen.

Im Auftrag von unseren Vereinsmitgliedern und breiter Öffentlichkeit
gratuliere ich dem Autor der Novelle ‚Unser Hof‘ Hugo Wormsbecher
mit diesem Erfolg!

Dr. (Inst. f. Orient.) Walther Friesen,
Stell. Vorsitzender der Expertengruppe
für die Angelegenheiten der Russlanddeutschen


Vorsitzender der Deutschen national-kulturellen Autonomie des Gebiets Omsk Bruno Reiter
gratuliert dem Regisseur Konstantin Rechtin;
in der Mitte – Hugo Wormsbecher